Avantgarde des Alltags
Avantgarde des Alltags: Postkartenmontagen 1900 – 1910
Bis zum Ersten Weltkrieg expandierte der Bildpostkartenmarkt in ungeahnte Höhen – 1904 wurden allein im Deutschen Reich 1,16 Milliarden Ansichtskarten verschickt. Die Bildpostkarte war neben der Illustrierten eine wesentliche mediale Möglichkeit, Information visuell und in Textform rasch und massenhaft zu verbreiten, denn die Vorzüge der Ansichtskarte bestanden nicht nur darin, dass sie Bild und Text gemeinsam beförderte. Die Übermittlung erfolgte auch in einem heutzutage kaum vorstellbaren Tempo: 1910 stellte die Post, überall in Europa, Sendungen drei Mal täglich zu. Die Hersteller sahen sich zu immer mutigeren Bildkreationen animiert: die mediale Fotomontage hatte das Licht der Welt erblickt.
Die Kreativität der zumeist anonymen Gestalter war enorm – es gab praktisch nichts, was es nicht gab: ausgeschnittene und montierte Fotografien, Mehrfachbelichtungen, Groteske und Satire, Bild- und Textkombinationen, szenische Darstellungen in Farbe oder Schwarzweiß sowie Collagen.
Die Montagekarten aus der Zeit nach der Jahrhundertwende sind verkannte Ikonen der Alltagsästhetik. Sie nahmen die Moderne, darunter insbesondere Dadaismus und Surrealismus, vorweg. In den Kunst, Medien- und Alltagswissenschaften oder im Museen fanden die faszinierenden Bilder bislang kaum Beachtung. Im Schönbuchmuseum Dettenhausen präsentiere ich rund siebzig originale Montagekarten aus der Zeit von 1900 bis 1910 zu Themen wie Flieger, Filmstars, Kinder, Gigantismus und Zukunft. Der weiterführende und reich illustrierte Band „Experimentierfeld der Moderne – Fotomontage 1890 – 1940“ ist in der Ausstellung sowie im Buchhandel erhältlich.